Die Symphonie, die Jeremías’ Leben veränderte 

In El Agustino, einem der ärmsten und gefährlichsten Viertel Limas, veränderte eine Geige das Leben eines schüchternen Jungen und öffnete ihm Türen zu Bühnen, von denen er nie zu träumen gewagt hätte. Dies ist die Geschichte von Jeremías, dessen Disziplin und Talent ihn zu Sinfonía por el Perú führten – und zu einer neuen Zukunft für sich und seine Familie. 

Jeremías hebt die Geige an sein Kinn, blinzelt leicht und setzt an zum Tanz von Bogen und Saiten. Er war gerade einmal acht Jahre alt, als er diese neue Sprache entdeckte. Jetzt, mit 15, spricht er sie mit Präzision. Die Melodie erfüllt sein Wohnzimmer, strömt durch das offene Fenster und vermischt sich mit dem Summen der Mototaxis, das sich die steilen Straßen des Hangviertels hinaufschlängelt. 

Jeremías Inchicsana Cahuana lebt in El Agustino, einem der ärmsten Stadtteile der peruanischen Hauptstadt Lima. Die beengten Behausungen entstanden in den 1960er Jahren, als Familien aus dem Andenhochland auf der Suche nach einem besseren Leben in die Stadt zogen und sich an den kargen Hängen niederließen. Heute sind die meisten Haushalte stark vom informellen Handel und der Kleinindustrie abhängig. Trotz Kriminalität, Überbevölkerung und begrenztem Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen sind die Gemeinschaftsbindungen stark und die urbane Kunst blüht. 

„Ich habe gesehen, wie die Polizei hier Verbrecher verfolgt hat“, sagt Jeremías. „Vielleicht liegt es daran, dass die Eltern keine Ausbildung haben oder dass junge Menschen keine Räume haben, in denen sie sich entfalten können.“ 

Seine Geschichte nahm dank zweier Faktoren eine andere Wendung: den Werten, die ihm seine Familie vermittelt hat, und seinem Beitritt zu Sinfonía por el Perú, einer gemeinnützigen Organisation, die durch Musik positive Gewohnheiten bei benachteiligten Kindern und Jugendlichen fördert. Das von dem renommierten peruanischen Tenor Juan Diego Flórez gegründete Ausbildungsprogramm nutzt die Kraft des Chor- und Instrumentalunterrichts in Genres von klassischer Musik bis Jazz und Folk. 

Jeremías' Mutter, Agustina.

„Ich wollte immer, dass Jeremas Musik erlernt. Das war ein tiefer Wunsch in meinem Herzen“, sagt seine Mutter Agustina Cahuana. Aber das Budget reichte nicht aus, um von einem Platz am Konservatorium zu träumen. Alles änderte sich jedoch, als Agustina hörte, dass die Enkelin ihrer Nachbarin kostenlosen Chorunterricht bei Sinfonía por el Perú erhielt. Ohne zu zögern meldete sie Jeremías an. 

Agustina, die zu Hause eine kleine Schneiderei mit Stoffresten betreibt, erinnert sich an den Tag, an dem sie Jeremías zum ersten Mal auf einer richtigen Theaterbühne auftreten sah. Dieser Meilenstein wurde zu einem Familienprojekt: Sie sorgten dafür, dass er keinen einzigen Unterricht verpasste. 

Während sie Stoffreste von Textilherstellern aus Gamarra zu Kleidung für Haustiere verarbeitet, denkt Agustina darüber nach, wie weit sie gekommen sind: „Früher habe ich mich klein gefühlt, wenn ich mit anderen gesprochen habe. Ich bin sehr schüchtern, vor allem, weil ich nur die Grundschule abgeschlossen habe. Aber seit mein Sohn neue Leute, Lehrer und Musiker kennengelernt hat und auftritt, bin ich mutiger geworden. Ich fühle mich nicht mehr so klein ... Manchmal denke ich mir, dass mein Sohn, der Sohn einer Frau, die nie lesen gelernt hat, es weit gebracht hat.“ 

Jede Woche entwirft sie neue Modelle, die sie auf einem Markt in der Nähe verkauft. Das Geld hilft ihr, den Lebensunterhalt zu finanzieren. 

Das erste Konzert und ein Neuanfang

Jeremías erfüllte nicht nur den Traum seiner Mutter, sondern auch seinen eigenen. Als Kind war er fasziniert von Videos des weltberühmten venezolanischen Musikers und Dirigenten Gustavo Dudamel. In Dudamel fand er ein Vorbild. 

Jeremías mit seiner Mutter und seinem kleinen Bruder.

Damals war Jeremías jedoch still, zurückhaltend und zögerte, mit Menschen außerhalb seines Zuhauses in Kontakt zu treten. Diese Angst verschwand, nachdem er sich Sinfonía por el Perú angeschlossen hatte. Das Programm brachte dem Jungen nicht nur das Geigenspielen bei, sondern half ihm auch, Selbstvertrauen aufzubauen, seine Emotionen zu kontrollieren und sich auszudrücken. Durch Ausdauer und Engagement schaffte er es in das Geigenprogramm und erhielt einen Platz im nationalen Ensemble. Jeremías war nun der erste Musiker in der Geschichte seiner Familie. 

Laut Gabriela Perona, Geschäftsführerin von Sinfonía por el Perú, geht die Kernaufgabe des Programms über die musikalische Ausbildung hinaus. Es geht um übertragbare Lebenskompetenzen – Resilienz, Zusammenarbeit, kritisches Denken –, die durch das Musizieren vermittelt werden. Die Initiative umfasst auch Familienunterstützung und psychologische Beratung. 

Deshalb ist das Programm in den am stärksten benachteiligten Gemeinden Perus verwurzelt. Bis Ende 2024 war Sinfonía por el Perú an über 30 Standorten in 10 Regionen aktiv und erreichte rund 6.400 Kinder und Jugendliche. 

Die Hilti Foundation ist der wichtigste Förderer von Sinfonía por el Perú. Seit 2007 konzentriert sich die Stiftung auf Musik als wirkungsvolles Instrument für sozialen Wandel, basierend auf der Überzeugung, dass der Zugang zu Kultur den Zusammenhalt, das Selbstvertrauen und die Chancen fördert – insbesondere für junge Menschen in benachteiligten Gemeinden. Christine Rhomberg, Direktorin für Musik für sozialen Wandel bei der Stiftung, sagt, dass dieser strategische Schwerpunkt durch die frühe Partnerschaft der Stiftung mit dem venezolanischen Dirigenten Gustavo Dudamel und dem Simón Bolívar Symphony Orchestra inspiriert wurde – genau dem Ensemble, das Jeremías einst inspiriert hatte. 

„Wir haben gesehen und sind überzeugt, dass gut konzipierte Programme wie Sinfonía por el Perú wirklich Leben verändern können“, sagt Rhomberg. 

Jeremías' Geige hat schon viele Kämpfe hinter sich.

Diese Veränderung ist in Jeremías' Nachbarschaft bereits zu spüren. Er träumt davon, Medizin an der Nationalen Universität von San Marcos zu studieren – aber er hat nicht vor, seine Geige aufzugeben. Seine Leidenschaft für Musik hat die Neugier seiner Klassenkameraden, Nachbarn und sogar seines jüngeren Bruders Zacarías geweckt, der kürzlich dem Programm beigetreten ist, um sein eigenes Ziel zu erreichen: „so zu sein wie er“. 

In Agustinas Augen sieht die Zukunft rosiger aus denn je. „Ich möchte, dass er mit seiner Kunst die Welt bereist – nach Italien, Frankreich, Deutschland“, sagt sie, während sie Kleidungsstücke näht, die sie am nächsten Markttag verkaufen will. 

 

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