Zwei junge Menschen proben eine andere Zukunft
Heidy und Bryan haben sich noch nie getroffen, aber ihr Leben ist durch einen gemeinsamen Nenner verbunden: Musik. Als Absolventen von Sinfonía por el Perú setzen beide nun ihre durch die Kunst erworbenen Fähigkeiten ein, um Veränderungen in ihren Gemeinden voranzutreiben.
In Peru, einem Land, in dem Ungleichheit oft die Wege junger Menschen einschränkt, zeigen zwei Geschichten – eine aus Pueblo Libre, die andere aus Rímac – wie Musikunterricht Türen für sozialen Wandel öffnen kann. Heidy und Bryan sind in sehr unterschiedlichen Verhältnissen aufgewachsen. Sie ist heute Psychologin, er Buchhalter. Obwohl sie sich nie begegnet sind, haben sie eine gemeinsame Wurzel: Beide sind Absolventen von Sinfonía por el Perú, einem Ausbildungsprogramm, das mehr als nur technische Fähigkeiten in der Musik vermittelt. Es lehrte sie Struktur, Disziplin und Zielstrebigkeit.
Musik als mentaler Anker: Heidys Geschichte
Wenn Heidy Sánchez auf ihre Teenagerjahre zurückblickt, sind ihre lebhaftesten Erinnerungen nicht jene an Hausaufgaben oder den Schulalltag, sondern an den Geigenunterricht. Sie erinnert sich an Notenblätter, Proben und vor allem an die Nervosität, die sie mit 16 Jahren bei einer Aufnahmeprüfung für eine höhere Stufe im Jugendorchester verspürte – eine Prüfung, die sie nicht bestand.
Mehr als jeder Erfolg ihr hätte beibringen können, zeigte ihr dieses Ereignis die Kraft der emotionalen Kontrolle. „Ich erkannte, dass ich einfach mein Bestes gab und niemand über mich urteilte. Diese Lektion habe ich an die Universität und sogar in Vorstellungsgespräche mitgenommen“, erinnert sich Heidy in ihrer bescheidenen Wohnung in Pueblo Libre, einem Mittelklasseviertel in Limas Hauptstadt.
Diese Aufnahmeprüfung fand im Rahmen von Sinfonía por el Perú statt – einem Programm, das vom renommierten peruanischen Tenor Juan Diego Flórez ins Leben gerufen wurde, um durch Musik sozialen Wandel zu fördern. Heute ist Heidy 22 Jahre alt und nicht mehr Teil des Orchesters, doch die Erfahrung hat ihr Selbstvertrauen gestärkt, ihren Charakter geprägt und ihren beruflichen Weg beeinflusst. So weckte sie in ihr den Wunsch, menschliches Verhalten und emotionales Wohlbefinden zu verstehen – ein Interesse, das sie schließlich zum Psychologiestudium führte.
In den letzten zehn Jahren haben wissenschaftliche Untersuchungen gezeigt, dass Musik die emotionale Intelligenz, die schulischen Leistungen und die sozialen Kompetenzen von Kindern fördern kann. Außerdem ist sie ein wirksames Mittel, um Stress und Ängste abzubauen und das Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen zu stärken.
Heute nutzt Heidy die Psychologie für ihre Arbeit in der Marktanalyse, aber Musik bleibt ein zentraler Bestandteil ihres Lebens. Sie unterrichtet Klavier, Violine und Ukulele und gibt Kindern ab drei Jahren sowohl an einer Musikschule als auch im Privatunterricht musikalische Früherziehung. Außerdem spielt sie in einem brasilianisch inspirierten Batucada-Ensemble, wo sie Percussion und Performancekunst auf spontanere und ausdrucksstärkere Weise erkundet.
Bryan: Der Buchhalter, der in der Schweiz sang
In seinem Buchhaltungsbüro plant Bryan Godoy Espinoza seinen Arbeitstag mit der Präzision einer Partitur. Mit 22 Jahren jongliert er – wie viele junge Berufstätige – zwischen Bankabstimmungen und Steuererklärungen. Was ihn jedoch von anderen unterscheidet: Er ist nicht nur zertifizierter Buchhalter, sondern auch ausgebildeter Sänger.
Bryan wuchs in Rímac auf, einem Stadtteil von Lima, der für seine historische Architektur, hohe Kriminalitätsrate und wirtschaftliche Not bekannt ist. Doch inmitten der kolonialen Straßen und überfüllten Ausläufer der Berge ist diese Gemeinde als Wiege der Música Criolla berühmt – einem traditionellen peruanischen Musikstil, der spanische, afrikanische und indigene Einflüsse vereint – und Heimat vieler der bekanntesten Komponisten und Interpreten Perus.
Bryans musikalische Reise begann mit seinem Großvater, der ihn großzog und ihm seine ersten Valses – den peruanischen Walzer – und Huaynos, einen traditionellen Anden-Folkstil, beibrachte. Von dort aus sang er im digitalen Orchester seiner Familie, bevor er im Alter von 13 Jahren dem Chor von Sinfonía por el Perú beitrat.
Im Chor zu singen bedeutete nicht nur, die richtigen Töne zu treffen. Es ging darum, zuzuhören, sich mit anderen zu harmonisieren, zu warten, bis man an der Reihe war, und sich in jeden hineinzuversetzen, der falsch sang. Über die technischen Fähigkeiten hinaus vermittelte das Programm Bryan auch Soft Skills, die sich als unschätzbar wertvoll erwiesen: Pünktlichkeit, Beständigkeit und Ordnung – Gewohnheiten, die auch sein Leben abseits der Bühne und in seinem Beruf positive beeinflussten.
Im Jahr 2019, im Alter von 17 Jahren, wurde Bryan ausgewählt, mit einem Jugendchor und dem Orchester Sinfonía por el Perú beim renommierten Lucerne Festival in der Schweiz aufzutreten. Mit dabei waren Jugendliche aus Österreich und Italien. Es war ein kultureller Schock und ein emotionales Erwachen. Das Singen auf Deutsch, die Anpassung an eine neue Zeitzone und die Auftritte vor einem anspruchsvollen Publikum gaben ihm einen Einblick in eine Welt, die er sich als Kind, das bei seinen Großeltern in Rímac aufwuchs, nie hätte vorstellen können.
Als er nach Hause zurückkehrte, hatte sich auch dort etwas verändert. Freunde, Familie, Nachbarn und sogar Fremde fragten ihn, wie sie ihre Kinder für das Programm anmelden und mit den Proben beginnen könnten. Heute arbeitet Bryan weiter an seiner Qualifikation als Buchhalter, um finanziell abgesichert zu sein – von der Musik verabschieden möchte er sich jedoch nicht.
Musik als Instrument für sozialen Wandel
Obwohl Sinfonía por el Perú ins Leben gerufen wurde, um soziale Integration durch Musik zu fördern, geht seine Wirkung weit über künstlerische Erfolge hinaus. Unabhängige Evaluierungen des peruanischen Thinktanks GRADE in den Jahren 2014 und 2018 ergaben, dass das Programm das Leseverständnis und die Mathematikkenntnisse verbessert, die Familienbande stärkt und soziale Risiken verringert.
Gabriela Perona, die Geschäftsführerin des Programms, erklärt, dass dieser Erfolg auf das Netzwerk zurückzuführen ist, das die Musikausbildung unterstützt: Elternworkshops, Freiwilligenprogramme für Familien, psychologische Beratung, Sozialarbeit und eine Strategie für ein sicheres Umfeld, die Selbstfürsorge fördert und Gewalt vorbeugt. „Einige unserer Absolventen ‚werden professionelle Musiker, und darauf sind wir stolz“, sagt Gabriela Perona. „Aber am wichtigsten sind die Lebenskompetenzen, die sie dabei erwerben.“
Für Christine Rhomberg, Direktorin für Musik für sozialen Wandel bei der Hilti Foundation – seit 2013 führender Partner des Programms – liegt die wahre Kraft von Sinfonia nicht in der musikalischen Exzellenz oder den Auftritten. „Sie liegt in der persönlichen Entwicklung des Einzelnen, in den stillen Veränderungen zu Hause, innerhalb der Familien – und strahlt dann nach außen, sodass ein Welleneffekt in der gesamten Gemeinschaft entsteht“, sagt sie.